Entscheidungen treffen ist Chefsache… oder?
Mit einer „Organizational Network Analysis (ONA)“ können informelle Strukturen und Informationsflüsse innerhalb von Organisationen zielführend identifiziert werden. Dabei entpuppt sich die ein oder andere Überraschung.
Wenn die Themen Verantwortung und Entscheidungen in Organisationen oder Unternehmen diskutiert werden, fallen häufig im gleichen Atemzug auch die Begriffe CEO, Vice President, Vorstand, Manager oder allgemein Führungskraft. Tatsächlich liegt der Ursprung darin, dass die formale Hierarchie eines Unternehmens genau diesen Personen Entscheidungsverantwortung zuschreibt. Aber wer spielt den genannten Positionen relevante Informationen zu? Wer besitzt ausgezeichnete Netzwerkfähigkeiten und verbindet als Knotenpunkt ganze Abteilungen miteinander? Und wer blockiert möglicherweise eine gute Zusammenarbeit verschiedener Teams und Abteilungen? Diese Fragen sind ein kleiner Ausschnitt dessen, womit sich die Organizational Network Analysis (ONA) detailliert auseinandersetzt, um Beziehungszusammenhänge und Interaktionen aller Individuen eines Netzwerks visuell darzustellen.
Mit Hilfe von ONA kann aufgedeckt werden, ob informelle Netzwerke vorhanden sind, die gerade nicht den formalen Hierarchien eines Unternehmens entsprechen. Oder auch wie es der Experte Rob Cross, Professor für Netzwerkdynamik in einem Artikel beschreibt: „ONA bietet einen Röntgenblick in das Innenleben einer Organisation – ein mächtiges Mittel um unsichtbare Muster des Informationsflusses und der Zusammenarbeit in strategischen Gruppen sichtbar zu machen.“ Wie so oft, führen auch Analysen des Netzwerkes nur dann zu einer Produktivitätssteigerung, wenn die Verantwortlichen in der Lage sind gewonnene Informationen richtig zu interpretieren und anzuwenden.
Als Teilbereich von People Analytics betrifft ONA auch direkt den Bereich Human Resources (HR). Bei der Form der Netzwerkanalyse handelt es sich allerdings keinesfalls um eine neue Entdeckung. Im Laufe der Digitalisierung haben sich jedoch Methoden und Analysetools inhaltlich so stark weiterentwickelt, dass sich bei der Untersuchung von Netzwerkdynamiken mittlerweile ganz neue Anwendungsmöglichkeiten ergeben. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Informationsketten des Unternehmens ermöglicht der Personalabteilung beispielsweise eine frühe Identifizierung von High Potentials. Qualifikationen basieren hierbei nicht alleine auf fachlicher Kompetenz, sondern umfassen zusätzlich Talente der Netzwerkbildung und soziale Aspekte. An welchen Mitarbeiter wenden sich Kollegen bei fachlichen Fragestellungen? Wer wird bei Karriereratschlägen kontaktiert? Und wer ist direkter Ansprechpartner der Führungskräfte? Diese Informationen können entscheidend dazu beitragen wertvolle Mitarbeiter frühzeitig zu erkennen und an optimaler Stelle zu platzieren. Darüber hinaus kann die Erkenntnis von Netzwerkstrukturen Aufschluss geben, welche Barrieren Arbeitsgruppen im Wege stehen und welche Abteilungen oder Personen besser miteinander vernetzt werden sollten.
Zur Gewinnung dieser wichtigen Informationen und Erkenntnisse, werden mithilfe von Tools oder Software aktive und passive Daten ausgewertet. Voraussetzung ist die Bestimmung einer Vielzahl messbarer Variablen als erster Schritt der Netzwerkanalyse. Für ein Beispiel einer solchen Bestimmung kann die Variable „Zeit“ genannt werden. Zeit, die ein Mitarbeiter im Kontakt zu seinen direkten Kollegen, aber auch Kollegen anderer Abteilungen, steht. In diesem Fall bietet sich eine Untersuchung der passiven Unternehmensdaten der betrachteten Personen und ihrer Netzwerke an (z.B. Telefon-, Mail-, und Zoomdaten). Unter aktiven Daten versteht man die Befragungsergebnisse aus aktuellen Mitarbeiterumfragen. Diese liefern meist bessere Antworten auf die Frage des Warums (z.B. Warum ist Kollege x der richtige Ansprechpartner für Thema y?).
Extrema bei den Ergebnisse sind meistens in beide Richtungen kein Anzeichen für optimale Produktivität und Effizienz im Unternehmen. Fällt die Zeit, die ein Mitarbeiter mit seiner Führungskraft in Kontakt steht sehr hoch aus, kann das ein Anzeichen für unklare, ineffiziente Gespräche sein. Sind die Kontaktzeiten jedoch sehr niedrig, werden möglicherweise zu wenige wichtige Informationen ausgetauscht. Natürlich kann es auch genau richtig oder absichtlich gewollt sein, dass einzelne Abteilungen ein Ungleichgewicht im Informationsaustausch verfolgen. Ist dem aber nicht so, ist ONA in der Lage, ein verstecktes Problem zu identifizieren und den Grundstein für eine optimale Strategieanpassung der Kommunikation und Vernetzung zu liefern.
Die visuelle Darstellung der Netzwerkstrukturen bei ONA kann zusätzlich dabei helfen, Produktivitätsbarrieren in hierarchischen Organisationen zu erkennen. Eine einfache Analyse der Netzwerke einzelner Führungskräfte könnte beispielsweise zu dem Ergebnis gelangen, dass jede Führungskraft ausreichenden Kontakt zum eigenen Team pflegt und ein ausgeglichener Informationsaustausch vorhanden ist. Bei Anwendung der ONA kann sich unter den gleichen Voraussetzungen allerdings herausstellen, dass der Kontakt der Führungskräfte bei Betrachtung der ganzheitlichen Organisation an einem Ort geballt stattfindet. Das führt zu einer konzentrierten Überschneidung von Informationen, die mit den selben Ressourcen aber einer optimierten Netzwerkstruktur, wesentlich größeren Output liefern könnten. Dieses Problem würde ohne eine Analyse des Netzwerks im seltensten Falle aufgedeckt werden, da kein direkter Auslöser für eine genauere Betrachtung und Veränderung der Situation sorgen würde. Von dieser Art der Beispiele gibt es eine ganze Menge; großes Optimierungspotential ohne klar identifizierbare Problemauslöser. Sei es die optimale Büroaufteilung inkl. sinnvoller Platzierung der Schlüsselpersonen beim Bau eines neuen Unternehmensgebäudes oder Planungen im Rahmen von “back to the Office”, also der Rückkehr ins Büro nach der COVID-19 Homeoffice-Phase. Oder darüber hinaus die Feststellung, an welchen Punkten konkret nach Netzwerktalenten gesucht werden sollte? Grundsätzlich gibt es unzählige Szenarien, bei denen die ONA zu einer Steigerung der Produktivität beitragen kann.
Ein Beispiel für den erfolgreichen Einsatz der ONA, liefert die Firma General Motors, zur Anpassung ihrer Strategie im Umgang mit Innovationen. In dem Artikel How to Catalyse Innovation in your Organisation[1] erklären Rob Cross und Michael Arena die Vorgehensweise von GM bei der Identifikation ausgewählter Mitarbeiter, welche großen Einfluss auf die Entwicklung und Umsetzung erfolgreicher Innovationen besitzen. Für das Bestehen im hart umkämpften Wettbewerb innovativer Produkt- und Dienstleistungen mit führenden Konkurrenten wie z.B. Google, nutze GM das Potential von ONA, um die innovativsten und treibenden Köpfe im eigenen Unternehmen zu identifizieren und in perfekt abgestimmten Projektteams miteinander zu verbinden. Nach der Zusammenstellung der „Innovationsgruppen“ konnten diverse Maßnahmen zur Produktentwicklung optimiert durchgeführt werden. Im Co-Lab, einem Zusammentreffen diverser Teams, pitchen ca. 50 Kleingruppen ihre Ergebnisse rund um das Thema Produkt-, und Dienstleistungsinnovationen. Durch eine künstliche Zeitknappheit und die optimale Zusammensetzung der Projektteams mit ONA im Vorhinein, sollen fortschrittliche, innovative Ideen das Unternehmen auf dem Markt weiter nach vorne bringen.
Organisationen leben im ständigen Wandel, aktuell bewegt sich der Trend weg von hierarchischen Führungsebenen hin zu agilen Projektteams. Durch diese stetige Veränderung in den Netzwerkstrukturen, kann sich die Organizational Network Analysis als hilfreiches Tool erweisen, wichtige Entscheidungsträger und Talente im Unternehmen herauszufiltern und zu fördern, anstatt ihr Potential unentdeckt an der falschen Stelle zu verschwenden. Personalabteilungen erhalten die Möglichkeit, rechtzeitig Nachfolgemanagement für die Stellenbesetzung wichtiger Knotenstellen zu betreiben und gleichzeitig die Eigenschaften von talentierten Netzwerkern zu identifizieren. Eines lässt sich nach genauer Betrachtung eindeutig feststellen: Wer das Potenzial der ONA im Unternehmen nicht ausschöpft, lässt People Datenschätze ungenutzt!
Abkürzungen: Organizational Network Analysis (ONA) | General Motors (GM)
[1] https://sloanreview.mit.edu/article/how-to-catalyze-innovation-in-your-organization/